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Dieses Thema hat 2 Antworten
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 Bahn und Bus in Dresden
dresdenbild Offline




Beiträge: 134

20.07.2008 06:55
Noch einmal zum Unfall im Jahre 1927 in Coschütz Antworten

Hallöchen.

Im einstigen Parsimonyforum habe ich ja schon einmal ausführlich über den schweren Straßenbahnunfall im Oktober des Jahres 1927 in der Westendkurve berichtet. Gestern nun fand ich bei Zeitungsrecherchen in der SLUB über ein Ereignis in der Baugeschichte Dresdens, welches ebenfalls in jenen Tagen stattfand, zufällig diesen Artikel in der damaligen SPD nahen Dresdner Volkszeitung über diesen Unfall, den ich hier einmal ungekürzt (nur die Liste der verletzten Personen lasse ich weg) einstelle:

Volkszeitung, 1. November 1927 Seite 5

Ein Unglückstag für die Straßenbahn

Die Katastrophe vom Westendpark – 18 Verletzte

Ein schweres Straßenbahnunglück ereignete sich am Sonnabend in der vierten Nachmittagsstunde auf der neuerbauten und erst vor zwei Wochen in Betrieb genommenen Strecke der

Linie 15 Plauen – Coschütz

Als ein Straßenbahnzug die Höhe herabgefahren kam, entgleiste in der Kurve unterhalb der Liepsch – Bank am mittleren Berghang der dichtbesetzte Anhänger, sauste über die Fahrbahn hinweg und rannte gegen zwei dort stehende starke Betonmaste der Oberleitung. Der Anhängewagen wurde hierbei stark beschädigt und stürzte um. Von den Fahrgästen wurden 18 Personen verletzt, darunter mehrere schwer.

Der stadtwärts fahrende dichtbesetzte Straßenbahnzug hatte am Endpunkt um 3.15 Uhr nachmittags in Coschütz – Gittersee verlassen. Schon von dort aus war der mit Quersitzen versehene große Anhänger gut besetzt. Es waren zumeist Einwohner aus Gittersee, die in der Stadt Einkäufe bewirken wollten. An den Haltestellen stiegen weitere Personen aus dem Stadtteil Coschütz und Teilnehmer einer auf dem äußeren Plauenschen Friedhof stattgefundenen Beerdigung hinzu. Der Führer des Straßenbahnzuges versieht schon seit dreißig Jahren den gleichen Dienst. Während der Talfahrt will er das Gefühl gehabt haben, dass die Bremsen nicht richtig funktionierten. Beim Durchfahren der sehr scharfen S-Kurve auf der neuerbauten Serpentinstraße sprang der starkbesetzte Anhänger aus den Gleisen. Nach den Feststellungen bestätigt es sich, dass der bedauerliche Unfall auf Versagen der Bremsen zurückzuführen ist.

Die Verunglückten


Von den erfreulicherweise meist leichtverletzten Fahrgästen wurden achtzehn in das Krankenhaus Dresden – Friedrichstadt eingeliefert, zehn der Verunglückten konnten bald wieder nach ihren Wohnungen verlassen werden. Ganze Familien wurden von dem Unfall betroffen. Die erheblicher verletzten Personen haben vornehmlich Kopfwunden und Brustquetschungen erlitten. Tragisch hatte sich der Unfall in der Familie des Schmiedes Paul Weise aus Niedergittersee ausgewirkt. Der etwa 40jährige Schmied war besonders erheblich getroffen worden, ihm musste ein Arm amputiert werden. Seinem Sohn, einen zehnjährigen Schulknaben, musste ein Bein in Gips gelegt werden. Frau Weise hatte durch Glassplitter am Kopfe verschiedene Schnittwunden und Quetschungen davongetragen; sie konnte später ihre Wohnung aufsuchen. Einige der verunglückten Fahrgäste müssen nach der an der Unfallstelle vorhandenen Blutlachen starken Blutverlust erlitten haben.
Eine große Menschenmenge war im Laufe der beiden schönen Herbstfeiertage nach dem Stadtteil Dresden – Coschütz gepilgert, um die Serpentinstraße nach dem Hochplateau zu besichtigen. Ein großes Glück im Unglück war es, dass der Anhänger gegen zwei der dort stehenden Eisenbetonmasten der elektrischen Oberleitung rannte, sonst wäre er die dort befindliche Böschung herabgestürzt.
Der erste Hilfe war schnell zur Stelle. Kurz nach 3 ½ Uhr traf ein Löschzug aus Löbtau und gleich darauf einer von der Hauptwache ein. Sofort traten die Feuerwehrsanitäter in Tätigkeit und leisteten den stark blutenden Verwundeten erste Hilfe.
Vier Krankenwagen der Feuerwehr sorgten für die Überführung der Verletzten. Kurz nach dem Eintreffen eines polizeilichen Absperrkommandos, etwa 3 ¼ Uhr, waren sämtliche Verwundeten abbefördert. Es wurde nun an die Aufrichtung des glatt an der Längsseite liegenden Wagens herangetreten. In kaum zehn Minuten hatten die Feuerwehrleute den völlig an den Fenstern, der hinteren Plattform und dem Dache zertrümmerten Wagen wieder in die Schienen gehoben. Vorher war auch der entgleiste Triebwagen wieder flottgemacht worden, so dass 4 ¼ Uhr der Straßenbahnverkehr wieder aufgenommen werden konnte.
Sehr schlimm sah das Innere des Anhängerwagens aus, aus dem die Verunglückten nur schwer zu befreien waren. Glassplitter, Blutspuren und Holztrümmer zeugten von der Wucht des Anpralls, der so vielen ahnungslos und frohgestimmt nach der Stadt fahrenden Leuten schweren Körperschaden zufügte. Der Schaffner des Anhängerwagens hat einen Arm gebrochen.

Bericht eines Beteiligten

Ein schwerverletzter Fahrgast berichtet uns folgende Einzelheiten: Nachdem an der Haltestelle Plauener Friedhof von einem stattgefundenen Begräbnis eine Anzahl Trauergäste eingestiegen waren, fuhren wir die neue Serpentinenstraße hinunter. Das Tempo wurde immer beängstigender; wir konnten uns die Ursache nicht erklären. Als wir uns der Kurve näherten, hatte ich das bestimmte Gefühl, dass es ein Unglück geben würde. Der Wagen (ich fuhr im verunglückten Anhängerwagen) kam ins Rütteln, begann dann zu schwanken und schien nicht mehr im Gleise zu fahren. Instinktiv hielt ich mich am Sitze fest. Mit einem gewaltigen Stoße kippte der Wagen um. Ich wurde in eine Ecke geschleudert, es prasselte und krachte um mich – und wie aus tiefem schlafe erwachte ich erst, als ich behutsam von mir zwei fremden Herren ins Freie hervorgehoben wurde.
Überall ein Wimmern und Schreien und Jammern – überall Dreck und Blut und umhergestreute Glasscherben, auch teilnahmsvoll fragende Menschen, die zur Hilfeleistung bereit waren – ich aber war verstört und geistesabwesend und überdachte die letzten Schreckensminuten.
In kurzer Zeit kam Hilfe: Rettungszüge der städtischen Feuerwehr und eine ausreichende Anzahl von Sanitätsautos. Mir wurde ein Notverband angelegt und bald war ich im Friedrichstädter Krankenhaus.
Ein zweiter Leichtverletzter schildert die Unglücksfahrt ähnlich. Auch er bemerkte das sich rasch steigernde Tempo – in wenigen Augenblicken war alles geschehen. Im letzten Moment beobachtete er das Schwanken, sah das Umkippen und als er dann an die Möglichkeit eines Unglücks dachte, lag er schon in der Ecke, mit Glasscherben bedeckt.

Die Ursache des Unglücks
Hetze bei der Arbeit

Die Schilderungen der Beteiligten geben einen wesentlichen Anhaltspunkt für die Feststellung der Ursachen und die Beantwortung der Schuldfrage. In den besonders beteiligten Orten ist die Empörung sehr groß. Man glaubt der Verwaltung einige Vorwürfe nicht ersparen zu können: Für den Betrieb mit stärkeren Gefälle und eingelegten Kurven gibt es doch besonders konstruierte Triebwagen, die wohl mit doppelter Bremsvorrichtung versehen sind. Hat man ausschließlich solche Motorwagen auf der Unglücksstelle verwandt oder nicht? Uns scheint als hätte man auf der Linie nicht gerade die besten Wagen verkehren lassen. Sehr verwunderlich ist die Hetze, mit der das Fahrpersonal auf der Strecke arbeiten musste. Ohne Pause musste an den Endstationen der Wagen umgedreht werden mit nachfolgender Abfahrt. Die Fahrzeit Coschütz – Rathaus Plauen war entschieden zu knapp bemessen, und die unablässigen Bemühungen, das Fahrpersonal zum Einhalten dieser Unmöglichkeit zu zwingen, haben sicher nichts Gutes gebracht. Mit Stoppuhr und Zeitabnahme wird in den Betrieben gearbeitet, die Arbeiter können ein Liedchen davon singen. Solche Maßnahmen charakterisieren aber ein Antreibersystem, das in den meisten Fällen eine Häufung der Unfallziffern mit sich bringt.

Der Bericht der Straßenbahndirektion

Zu den Straßenbahnunglück am vergangenen Sonnabend teilt uns die Direktion der Straßenbahn folgendes mit: Glücklicherweise stellt sich nach dem heutigen Bericht des Krankenhauses Friedrichstadt heraus, dass es sämtlichen dort eingelieferten Verletzten besser geht. Verletzt sind nach bisheriger Feststellung 18 Personen; davon haben 8 ernstere Verwundungen (Unterarmbruch, Mundverletzung, Kopfverletzung, Arm- und Beinverletzungen) davongetragen. Der Schmied Herr, Paul Weise, aus Gittersee, befindet sich nach Mitteilungen der Krankenhausdirektion außer Lebensgefahr.
Die Erörterungen, die sich nach einem derartigen Unglück naturgemäß sehr umfangreich gestalten, sind noch im vollen Gange. Es sind nicht nur die Einrichtungen der beteiligten zwei Straßenbahnwagen, sondern auch die betriebstechnischen Verhältnisse der in Frage kommenden Bahnstrecke aufs genaueste nachgeprüft worden. Dabei hat sich ergeben, dass der allgemeine Zustand, die Spur und die Überhöhung der Gleise vollkommen in Ordnung sind, und die Bremsen der beteiligten Wagen funktioniert haben. Der in Frage kommende Triebwagen ist ja auch gleich nach dem Unfall von einem Straßenbahnwagenführer ordnungsgemäß nach Mickten gefahren worden, ohne das ein anderer Triebwagen als Vorspann nötig gewesen wäre.
Die Frage, die in Fahrgastkreisen stark erörtert wurden ist, ob nämlich auf der Serpentinstraße keine besonderen Gefahrbremsen vorgesehen werden müssten, wie etwa bei den Bühlauer Wagen, muss dahin beantwortet werden, dass eine solche Vorkehrung dort nicht nötig und auch nach den Betriebsvorschriften nicht gefordert ist. Die Gefahrbremse ist lediglich für die Strecke Waldschlösschen – Bühlau vorgesehen: dort beträgt die Steigung 1:13, d. h. auf 13 Meter Straßenlänge kommt ein Meter Steigung. Die Bahn auf der Serpentinstraße weiste maximale Steigung von 1:23 auf, sie bleibt demnach beträchtlich hinter einer Anzahl anderer Gefällstrecken im Dresdner Straßenbahnbetrieb zurück; erwähnt sei nur die Steigung der Linie 7 zwischen Arsenal und Klotzsche, die den Maximalwert von 1:18 auf 300 Meter Länger erreicht, sowie die Linie 20, zwischen Sachsdorfer und Hühndorfer Straße, die eine Höchststeigung von 1:17 aufweist. Auf diesen sowie auf noch vielen anderen ähnlichen Gefällstrecken ist die Gefahrbremse weder vorgeschrieben noch bisher eingerichtet worden; trotzdem haben sich auf diesen Strecken keine Unglücksfälle ereignet, die auf das Fehlen der dritten Bremse zurückzuführen wären.
Neben den betriebstechnischen Erörterungen ist selbstverständlich auch die Vernehmung des beteiligten Personals sowie die Feststellung der Zeugen in vollem Gange. Hierüber können zur Zeit keine näheren Mitteilungen gemacht werden, weil die Meinungen sich erst einigermaßen geklärt haben müssen, und es für alle beteiligten unerwünscht ist, wenn vorzeitige Berichte veröffentlicht werden. Die Straßenbahndirektion wird selbstverständlich je nach dem Fortschritt der Erörterungen die Öffentlichkeit über das Ergebnis der Ermittlungen auf dem laufenden halten. Grund zu irgendwelcher Beunruhigung beim Befahren der neuen Strecke besteht selbstverständlich in keiner Weise, wie denn auch der Verkehr sich nach dem Unglücksfall in völlig normaler Weise abgespielt hat. Es sind nach dem Unglücksfall bereits wieder mehr als 200 Züge und über 100 einzelne Triebwagen herunter- und hinaufgefahren.


NB: Am selbigen Tag stürzte beim Absteigen an der Haltestelle Laibacher Straße in Laubegast ein Frau, geriet unter den anfahrenden Wagen und wurde schwerst verletzt. (Quelle: ebenda)

Besonders interessant finde ich die Erklärung der Straßenbahndirektion und die von der Redaktion der Volkszeitung vermutete sekundäre Unfallursache. Letztlich habe ich bis zur Gerichtsverhandlung gegen den Fahrer des Unfallzuges auch keine weiteren Stellungsnahmen der Straßenbahndirektion im DA gefunden, habe allerdings auch nicht gezielt danach gesucht.
Während der Gerichtsverhandlung stellte sich ja dann bekanntlich und tatsächlich heraus, dass zwar als eigentliche Unfallursache der Wagen "Schlitten gefahren", aber der Hauptgrund in einer für diesen Streckenabschnitt viel zu geringen Fahrzeit zu suchen ist. Klammheimlich wurden ja noch vor der Gerichtsverhandlung die Fahrzeiten gestreckt und eine Zwangshaltestelle angewiesen. Auch ein zusätzlichen Sandposten !!!! wurde eingerichtet. Hinzu kommt noch, dass es tatsächlich Anweisungen gegeben haben muss, welche den Fahrer nachdrücklich auf das pünktliche Eintreffen, vor allem bei Anschlüssen, hinwies. Das allerdings auch am Endpunkt Coschütz für das Umsetzen keine ausreichende Wendezeit vorhanden war, das war mir neu. Letztendlich wurde ja auch der Fahrer des Unglückszuges freigesprochen.
Parallelen zur heutigen Zeit, im Fahr- und Wendezeitenbezug, sind rein zufällig.

Matthias

dresdenbild Offline




Beiträge: 134

22.07.2008 06:40
#2 RE: Noch einmal zum Unfall im Jahre 1927 in Coschütz Antworten

Ein Bild von der Unfallstelle möchte ich euch nicht vorenthalten.

Gefunden habe ich diese Abbildung in Dresden in den 20er Jahren, einer Weiterführung der SZ Edition, Seite 119. Allerdings ist diese Broschüre, im Gegensatz der anderen vorhergehenden Ausgaben, diesmal nicht so recht durchgearbeitet, eine Anzahl Fehler haben sich eingeschlichen. Das aber nebenbei.

Zum Foto selbst.



Aufgenommen ist das Foto unterhalb der einst wohl beliebtesten Fotostandorte am Westendring, der so genannten Liepschbank. Heute ist allerdings die Aussicht verwachsen und die Straßenbahn "rennt" auch nicht mehr unkontrolliert geradeaus bez. will es versuchen, sondern die Strecke geht planmäßig in Richtung der "Lehmi". Deutlich sind auf diesem Foto auch die Spuren der Entgleisung zu sehen und das der zuerst aus den Gleisen gesprungene Beiwagen die letzte Achse des Triebwagens mit aus dem Gleis riss. Auch dämpfte der Zusammenstoß mit den Oberleitungsmasten sehr wohl den Schwung und verhinderte schlimmeres. Die teilweise heute noch vorhandenen kleinen Betonpoller hätten wohl nicht viel ausrichten können. Merkwürdig ist allerdings der Hintergrund. Obwohl das Foto relativ scharf ist, liegt die Silhouette Dresdens im ziemlichen Nebelschleier. Das steht zwar im Gegensatz zum obenstehenden Zeitungsartikel, wo man von "schönen Herbsttagen" spricht, deckt sich aber mit den späteren Aussagen im Verlauf des Gerichtsprozesses (den hatte ich ja im alten Forum genauestens auseinansderklamüsert). So schön schien das Wetter doch nicht gewesen zu sein und es ist gewiss anzunehmen, dass die Gleise feucht und besonders durch den Laubfall schmierig waren. Der Wagen fuhr also Schlitten.

Einen schönen Tag noch

Matthias

Obusschaffner Offline



Beiträge: 89

17.10.2008 15:06
#3 RE: Noch einmal zum Unfall im Jahre 1927 in Coschütz Antworten

Hallo, auch im Dezember 1959 gab es einen schweren Unfall an der Haarnadelkurve am Westendring. Wenn das interessiert, bitte bei http://www.verlagtm.de (mein Ruhestandshobby) unter "Leseproben" etwas weiter unten den Aufsatz "Ein schwarzer Tag für die 11" einsehen.

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